Internationaler Melodramen Verein

International Melodrama Society

(gegründet 2004)

 


Zdeněk Fibich – Reformator und Erfinder

 

            Wort und Ton. In der Geschichte galt der Gesang viele Jahre hindurch als die einzig mögliche höhere Verbindung zweier Ausdrucksmittel, durch die die dichterischen und musikalischen Gedanken vermittelt werden könnten. Die Instrumentalmusik wurde bis in die Spätrenaissance als niedrigere Kunst verstanden, sie diente vor allem dem Tanz; nur die von dem reinsten und natürlichsten Instrument – der menschlichen Stimme – vorgetragenen edlen Worte konnten zu Gott sprechen. Die Stilwende am Ende des 16. Jahrhunderts hat endlich die Instrumentalmusik als autonom anerkannt, der instrumental begleitete Gesang emanzipierte sich. Diese Zeit brachte auch eine neue Form der Verbindung zwischen Wort und Ton, und zwar auf der Bühne. Sie war als Wiederbelebung des vergessenen griechischen Dramas gedacht, doch aus einer irrtümlichen Vorstellung entstand eine vollkommen neue Gattung, in deren Geschichte das Wort-Ton-Verhältnis einmal zugunsten des Wortes, einmal zugunsten der Musik gelöst wurde: es genügt die zwei bekanntesten Namen zu nennen – Gluck und Mozart. Immer ging es darum, welchen Platz die Musik (eigentlich die Melodie) in der Hierarchie aller Musikmittel einnehmen solle, inwieweit das Musiktheater eine Exhibition der Sänger sein dürfe. Im Verlauf der Zeit  ist man zur Erkenntnis gekommen, daß das griechische Theater eine andere Vorstellung über die Rolle der Stimme und des Instrumentes beim Drama hatte. Darauf hat sich Richard Wagner berufen, der an die Stelle des Dualismus zwischen Rezitativ und Arie das Prinzip des konsequenten musikalischen Durchkomponierens setzte. Auch Wagner konnte nicht (und wollte schließlich auch nicht) das griechische Drama wiederbeleben. Er versuchte die – wie er meinte – verlorene Einheit des Wortes, der Musik und der Bühne wieder zu finden, doch das Gleichgewicht wurde letztlich wieder zugunsten der Musik zerstört. Bei Wagner wächst das Drama aus der Musik, die Musik trägt das Drama in sich selbst.

 

Ein anderer Weg

 

            Es gab aber auch einen anderen Weg. Der französische Enzyklopädist Jean Jacques Rousseau schrieb im Jahre 1762 seine „lyrische Szene“ Pygmalion, im Jahre 1770 komponierte Horace Coignet die Musik dazu. Mit der Musik eines anderen Komponisten, Antoine Baurdon, wurde das Werk Rousseaus, in dem das Wort nicht gesungen, sondern rezitiert wurde und die Musik die dramatischen Affekte begleitete, auch im so genannten „Kotzentheater“ in Prag gespielt. Rousseau war überzeugt, der französischen Sprache an „Metrum und Melodik“ fehle und sie für die Oper ungeeignet sei. Auch er suchte im Theater nach der „dramatischen Wahrheit“ und dieses Suchen wird in der Operngeschichte von Zeit zu Zeit immer wieder erscheinen. Interessant ist es, daß die Idee Rousseaus, die als  „Melodrama“ bezeichnet wurde, in Frankreich selbst keinen großen Widerhall gefunden hat, doch gab sie in Deutschland – vielleicht auch als ein Mittel der Opposition gegen die Herrschaft der italienischen Oper – einen Impuls für neue Werke. Die Weimarer Seyler´sche Theatergesellschaft hatte Rousseaus Pygmalion im Repertoire. Sie gastierte auch in Gotha, wo seit 1770 der tschechische Komponist Jiří Antonín (Georg Anton) Benda (1722–1795) wirkte. Dieser nahm die Idee Rousseaus auf und schrieb seine szenischen Melodramen  Ariadne auf Naxos und Medea, die zu den ersten dieser Gattung in deutscher Sprache gehören. Die Melodramen Bendas bewunderte auch Wolfgang Amadeus Mozart (sein einziges derartiges Werk  blieb jedoch unvollendet). Überraschenderweise wurde unlängst auch in Italien ein Melodrama dieses Typus gefunden, Werther von Cesare Pugni (ca. 1780). Als Theatergattung hat sich jedoch das Melodrama nicht weiter entwickelt, und auch als konzertante Form blieb es eine Seltenheit (z. B. bei Schumann oder Brahms), obwohl wir es als selbständige Gattung  oder als Einlage in den Werken von Joseph Weigl, Ludwig van Beethoven, Carl Maria von Weber, Franz Liszt, Hector Berlioz, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Bedřich Smetana finden können.

 

Ein Benda-Jubiläum in Prag und seine Folgen

 

            In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die Persönlichkeit Wagners in der Theaterwelt bereits eine unübersehbare Position; jeder Komponist, der im Musiktheater etwas bedeuten wollte, mußte sich mit ihm messen. Sein Lohengrin und Tristan und Isolde haben neue Welten eröffnet. In Prag kam es damals aber noch zu einer eigenständigen Entwicklung. Am dortigen tschechischen Interimstheater wurde am 22. Dezember 1875 das 100. Jubiläum der Uraufführung von Ariadne auf Naxos und Medea von Jiří Antonín Benda gefeiert. Es fand nur diese einzige Festvorstellung statt (lediglich die Medea wurde noch am 15. Jänner1876 wiederholt), doch hatte dieses Ereignis eine große Auswirkung. Mit der Einstudierung war nämlich der Kapellmeister Zdeněk Fibich bertraut worden.

            Zdeněk Fibich (1850–1900) studierte in Prag, Wien und Leipzig, weitere Erfahrungen sammelte er in Paris und Mannheim, wirkte als Chormeister in Vilnius in Litauen, bis er sich ständig in Prag niederließ. In den Jahren 1875–78 war er Chormeister und Zweiter Kapellmeister am Interimstheater, den Rest seines Lebens – mit Ausnahme der zwei letzten Jahre, als er als Dramaturg am Nationaltheater tätig war – lebte er als freier Komponist und Privatlehrer. Er gehörte zu den gebildetsten Komponisten seiner Zeit, was auch seine erhalten gebliebene Bibliothek beweist. Die persönliche Begegnung mit dem Werk Bendas stärkte noch sein Interesse am historischen Musiktheater. Einen weiteren Impuls erhielt Fibich durch den tschechischen Ästhetiker Otakar Hostinský (1847-1910). Dieser war ein überzeugter Verteidiger der modernen Richtung in der Musik und Anhänger Wagners. Er polemisierte über das „musikalisch Schöne“ mit dem Wiener Kritiker und Ästhetiker Eduard Hanslick, versuchte jedoch, zwischen diesen zwei Positionen eine „spezifisch tschechische“ (die für ihn das Werk des tschechischen Nationalkomponisten Bedřich Smetanas darstellte) zu definieren. (Der so genannte „Kampf um Smetana“ in der tschechischen Musik war gewissermaßen ein Abbild des Kampfes zwischen „Wagnerianen“ und „Brahmsianen“ in Wien). Die praktische Begegnung mit dem Werk Bendas und die theoretischen Betrachtungen Hostinskýs stellten für Fibich eine künstlerische Aufforderung dar. Noch im Jahre 1875 schrieb er sein erstes Konzertmelodram, Der heilige Abend, nach einer Ballade von Karel Jaromír Erben für einen Sprecher und Klavier (später hat er das Werk instrumentiert). Die Konzertmelodramen Fibichs, vor allem die nach den beliebten Erben-Balladen geschriebenen, sind  rasch populär geworden. Man findet sie an den Programmen verschiedener Vereine, wo sie von begeisterten Dilettanten aufgeführt wurden. Bald erschien auch ein erster Spezialist, der Schriftsteller, Journalist und Schauspieler František Sokol-Tůma (1855–1925), der mit den Melodramen Fibichs eine Tournee in den Böhmischen Ländern unternahm.

Im Jahre 1885 veröffentlichte Hostinský in der Zeitschrift Lumír einen Artikel Über das Melodram, wo zum ersten Mal die theoretischen Voraussetzungen dieser neuen (oder wiederbelebten) Gattung formuliert waren. An einem „Melo-Drama“ (also als einer abenfüllenden szenischen Form) hat Hostinský jedoch gezweifelt.

 

Ein terminologisches Labyrinth

 

            Den Begriff „Melodrama“ bzw. „Melodram“ ist nicht eindeutig zu erklären. Abgesehen davon, daß im Italienischen das Wort „Melodramma“ noch bei Giuseppe Verdi als Synonym für „Oper“ aufscheint, hat es in der Geschichte des Theaters und des Filmes unterschiedliche Bedeutungen.  Als „Melodrama“ bezeichnete man die französischen Theaterstücke des 19. Jahrhunderts mit einer einfachen Handlung, reicher Bühnenausstattung und dem Tanz. Die Intrige verwendete die üblichen „Verkleidungs-„ und „Entführungstricks“, zum Schluß kam immer anstatt des historischen deus ex machina ein „unerwarteter“ Zufall. Nach England exportiert, bedeutete das Wort „Melodrama“ dann ein Schauspiel mit einem größeren Anteil an Bühnenmusik. So wurden auch die beliebten „Gespenster“-Stücke benannt, eine Theatervariation des „gotischen“ Romans, und so kamen sie auch nach Amerika. Und eine Kuriosität: heute findet man im Geburtsland Fibichs und Vrchlickýs (seines Librettisten) das Wort  „Melodrama“ im Fernsehprogramm als Bezeichnung für ein „Liebesdrama“.  Die Musikwissenschaft unterscheidet jedenfalls zwischen Melodram – eine für die konzertante Aufführung bestimmte Gattung, die Rezitation mit musikalischer Begleitung – und dem Melodrama, ein vom Orchester begleitetes Schauspiel.

 

Zurück zu den Griechen

 

Otakar Hostinský war auch einer der ersten Tschechen, die sich für das griechische Drama interessiert haben. Er publizierte Betrachtungen Über die Musik der alten Griechen (1880) und das erneuerte Interesse an der Geschichte des Theaters (ein Bestandteil des allgemeinen historischen Interesses der Romantik) regte auch den Dichter, Übersetzer und Dramatiker Jaroslav Vrchlický (1853–1912) an. Fibich hat bereits Vrchlickýs Gedichte (Königin Emma, Hakon) bzw. Übersetzungen (Der Blumen Rache von Ferdinand Freiligrath) zu seinen Konzertmelodramen verwendet. In den Jahren 1889–91 entstand nun die dramatische Trilogie Vrchlickýs, Hippodamia. Zuerst schrieb Vrchlický den ersten und den dritten Teil. Als jedoch Fibich  den ersten Teil, Pelops Brautwerbung, mit Musik unterlegt, fand auch der Dichter Interesse an diesem Experiment und schrieb den mittleren Teil direkt als ein Libretto zum Melodrama. Beide sahen in ihrem gemeinsamen Werk eine Möglichkeit, ihre Vorstellungen von der Verbindung zwischen  Wort und Musik aufgrund eines mythologischen Stoffes zu verwirklichen. Im Unterschied zum Werk von Benda, in dem die rezitierten Passagen mit den musikalischen Zwischenspielen abwechseln, haben Fibich und Vrchlický eine andere Art gewählt: die Musik untermalt die Worte, sie akzentuiert deren Inhalt. Dabei hat Fibich als assoziatives  Mittel auch die Wagnersche Leitmotivik verwendet.

Die Uraufführung von Pelops Brautwerbung fand am 21. Februar 1890 am Nationaltheater Prag statt, ein Jahr später, am 2. Juni, wurde der zweite Teil, Tantalos Versöhnung, und am 8. November der dritte Teil, Der Tod der Hippodamia, uraufgeführt. Der erste Teil – Pelops Brautwerbung – repräsentierte auch die tschechische dramatische Kunst anläßlich der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen im Jahre 1892 in Wien, als Bestandteil des Gastspiels des Prager Nationaltheaters. Die Kritik schrieb:

„Es ist die konsequente Ausgestaltung des Wagner´schen Musikdramas, das keine natürlichere Entwickelung haben konnte, als die zum Melodram. Der nächste Schritt von der Recitation auf Noten war folgerichtig die Recitation ohne Noten. Der Böhme Zdenko Fibich hat ihn, entsprechend der vorgreifenden slavischen Natur, früher gemacht, als er in Deutschland, das noch immer tief im Autoritätsbanne Wagner´s steckt, erwartet werden konnte.“
Dr. Josef Koenigstein, Illustrirtes Wiener Extrablatt).

„Es war ein wahrhaft erhebender Theaterabend, ein ungewöhnlicher künstlerischer Genuss. Eine glückliche Fügung, welche jederzeit, soll ein bedeutendes Kunstwerk erstehen, harmonische Elemente zum ästhetischen Bunde einen muss, hat einem hervorragenden Dichter, Jaroslav Vrchlický, einen genialen Musiker, Zdenko Fibich, zugeführt.“ (Dr. Robert Hirschfeld, Die Presse).

„Es ist keine neue Kunstgattung, die Fibich geschaffen; schon Beethoven, vor allem aber Marschner und Schumann haben sich wirkungsvoll auf melodramatischem Gebiete bewegt. Doch ist Fibich der Erste, der dieses Princip bis in seine äussersten Konsequenzen verfolgt hat, und fasst diese Kunstform auf der Bühne Boden, worüber heute noch gar nicht beurtheilt werden kann, so wird man den Böhmen als Bahnbrecher gelten lassen müssen.“ (Albert Kauders, Wiener Allgemeine Zeitung).

„Getreu dem Plane, die dramatische Literatur und Musik des czechischen Volkes in ihren hervorragendsten Werken den internationalen Wienern zu zeigen, brachte man gestern ein Drama voll eigenartigen Reizes, in welchem sich das gesprochene Wort mit den Tönen der Musik zu voller poetischer Wirkung eint.“ (ohne Namens des Verfassers, Fremdenblatt).

Als Gesamtzyklus wurde die Trilogie im Rahmen der Feier zum 40. Geburtstag des Dichters Vrchlický, vom 16. bis 18. Februar 1893, am Nationaltheater gespielt. Auch einige ausländische Bühnen haben sich für das Werk eingesetzt. Pelops Brauwerbung wurde im Jahre 1893 vom Flämischen Nationaltheater in Antwerpen (auf Flämisch) aufgeführt, am 9. April 1924 fand an der Wiener Volksoper die erste deutschsprachige Aufführung statt.  Vrchlický und Fibich haben das Werk für die Sprechschauspieler bestimmt, doch bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte sich – mit der Einführung der natürlichen Sprechweise und der Ablehnung der pathetischen Deklamation, – daß die Schauspieler mit der Interpretierung der Melodramen gewaltige Probleme haben. So versuchten bereits im Jahre 1932 der Regisseur Ferdinand Pujman und der Dirigent Otakar Ostrčil, die melodramatische Trilogie Hippodamia mit Opernsolisten zu besetzen. Die Inszenierung sollte auch die Auffassung des Werkes als einer vor allem musikalischen und erst in zweiter Linie dramatischen Form beweisen. Die im Fibich-Jahr 2000 im Rahmen des Festivals Prager Frühling stattgefundene konzertante Aufführung zeigte aufs neue, wie wenig heute in der schauspielerischen Ausbildung der Akzent auf eine reine, deutliche Deklamation gelegt wird. Auch deswegen hat die Fibich-Gesellschaft das Fibich-Festival und den Fibich-Wettbewerb ins Leben gerufen.

Fibich fand mehrere Nachfolger im Konzertmelodram: Josef Bohuslav Foerster, Otakar Ostrčil, Ladislav Vycpálek, Záboj Bláha-Mikeš, Pavel Bořkovec, František Bartoš u.a. Doch im szenischen, abenfüllenden Melodrama blieb er der Begründer und der einzige Meister.

 

 

© 2005 Vlasta Reittererová


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