Zdeněk Fibich – Reformator und Erfinder
Wort und Ton. In der Geschichte galt
der Gesang viele Jahre hindurch als die einzig mögliche
höhere Verbindung zweier Ausdrucksmittel,
durch die die dichterischen und musikalischen Gedanken
vermittelt werden könnten. Die Instrumentalmusik wurde
bis in die Spätrenaissance als niedrigere Kunst verstanden,
sie diente vor allem dem Tanz; nur die von dem reinsten
und natürlichsten Instrument – der menschlichen Stimme
– vorgetragenen edlen Worte konnten zu Gott sprechen.
Die Stilwende am Ende des 16. Jahrhunderts hat endlich
die Instrumentalmusik als autonom anerkannt, der instrumental
begleitete Gesang emanzipierte sich. Diese Zeit brachte
auch eine neue Form der Verbindung zwischen Wort und
Ton, und zwar auf der Bühne. Sie war als Wiederbelebung
des vergessenen griechischen Dramas gedacht, doch
aus einer irrtümlichen Vorstellung entstand eine vollkommen
neue Gattung, in deren Geschichte das Wort-Ton-Verhältnis
einmal zugunsten des Wortes, einmal zugunsten der
Musik gelöst wurde: es genügt die zwei bekanntesten
Namen zu nennen – Gluck und Mozart. Immer ging es
darum, welchen Platz die Musik (eigentlich die Melodie)
in der Hierarchie aller Musikmittel einnehmen solle,
inwieweit das Musiktheater eine Exhibition der Sänger
sein dürfe. Im Verlauf der Zeit
ist man zur Erkenntnis gekommen, daß das griechische
Theater eine andere Vorstellung über die Rolle der
Stimme und des Instrumentes beim Drama hatte. Darauf
hat sich Richard Wagner berufen, der an die Stelle
des Dualismus zwischen Rezitativ und Arie das Prinzip
des konsequenten musikalischen Durchkomponierens setzte.
Auch Wagner konnte nicht (und wollte schließlich auch
nicht) das griechische Drama wiederbeleben. Er versuchte
die – wie er meinte – verlorene Einheit des Wortes,
der Musik und der Bühne wieder zu finden, doch das
Gleichgewicht wurde letztlich wieder zugunsten der
Musik zerstört. Bei Wagner wächst das Drama aus der
Musik, die Musik trägt das Drama in sich selbst.
Ein anderer Weg
Es gab aber auch einen anderen Weg.
Der französische Enzyklopädist Jean Jacques Rousseau
schrieb im Jahre 1762 seine „lyrische Szene“ Pygmalion,
im Jahre 1770 komponierte Horace Coignet die Musik
dazu. Mit der Musik eines anderen Komponisten, Antoine
Baurdon, wurde das Werk Rousseaus, in dem das Wort
nicht gesungen, sondern rezitiert wurde und die Musik
die dramatischen Affekte begleitete, auch im so genannten
„Kotzentheater“ in Prag gespielt. Rousseau war überzeugt,
der französischen Sprache an „Metrum und Melodik“
fehle und sie für die Oper ungeeignet sei. Auch er
suchte im Theater nach der „dramatischen Wahrheit“
und dieses Suchen wird in der Operngeschichte von
Zeit zu Zeit immer wieder erscheinen. Interessant
ist es, daß die Idee Rousseaus, die als „Melodrama“ bezeichnet wurde, in Frankreich
selbst keinen großen Widerhall gefunden hat, doch
gab sie in Deutschland – vielleicht auch als ein Mittel
der Opposition gegen die Herrschaft der italienischen
Oper – einen Impuls für neue Werke. Die Weimarer Seyler´sche
Theatergesellschaft hatte Rousseaus Pygmalion
im Repertoire. Sie gastierte auch in Gotha, wo seit
1770 der tschechische Komponist Jiří Antonín
(Georg Anton) Benda (1722–1795) wirkte. Dieser nahm
die Idee Rousseaus auf und schrieb seine szenischen
Melodramen Ariadne
auf Naxos und Medea,
die zu den ersten dieser Gattung in deutscher Sprache
gehören. Die Melodramen Bendas bewunderte auch Wolfgang
Amadeus Mozart (sein einziges derartiges Werk blieb jedoch unvollendet). Überraschenderweise
wurde unlängst auch in Italien ein Melodrama dieses
Typus gefunden, Werther
von Cesare Pugni (ca. 1780). Als Theatergattung hat
sich jedoch das Melodrama nicht weiter entwickelt,
und auch als konzertante Form blieb es eine Seltenheit
(z. B. bei Schumann oder Brahms), obwohl wir es als
selbständige Gattung oder als Einlage in den Werken von Joseph Weigl,
Ludwig van Beethoven, Carl Maria von Weber, Franz
Liszt, Hector Berlioz, Felix Mendelssohn-Bartholdy
oder Bedřich Smetana finden können.
Ein Benda-Jubiläum in Prag und seine Folgen
In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts
hatte die Persönlichkeit Wagners in der Theaterwelt
bereits eine unübersehbare Position; jeder Komponist,
der im Musiktheater etwas bedeuten wollte, mußte sich
mit ihm messen. Sein Lohengrin
und Tristan
und Isolde haben neue Welten eröffnet. In Prag
kam es damals aber noch zu einer eigenständigen Entwicklung.
Am dortigen tschechischen Interimstheater wurde am
22. Dezember 1875 das 100. Jubiläum der Uraufführung
von Ariadne
auf Naxos und Medea
von Jiří Antonín Benda gefeiert. Es fand nur
diese einzige Festvorstellung statt (lediglich die
Medea wurde
noch am 15. Jänner1876 wiederholt), doch hatte dieses
Ereignis eine große Auswirkung. Mit der Einstudierung
war nämlich der Kapellmeister Zdeněk Fibich bertraut
worden.
Zdeněk
Fibich (1850–1900) studierte in Prag, Wien und Leipzig,
weitere Erfahrungen sammelte er in Paris und Mannheim,
wirkte als Chormeister in Vilnius in Litauen, bis
er sich ständig in Prag niederließ. In den Jahren
1875–78 war er Chormeister und Zweiter Kapellmeister
am Interimstheater, den Rest seines Lebens – mit Ausnahme
der zwei letzten Jahre, als er als Dramaturg am Nationaltheater
tätig war – lebte er als freier Komponist und Privatlehrer.
Er gehörte zu den gebildetsten Komponisten seiner
Zeit, was auch seine erhalten gebliebene Bibliothek
beweist. Die persönliche Begegnung mit dem Werk Bendas
stärkte noch sein Interesse am historischen Musiktheater.
Einen weiteren Impuls erhielt Fibich durch den tschechischen
Ästhetiker Otakar Hostinský (1847-1910). Dieser war
ein überzeugter Verteidiger der modernen Richtung
in der Musik und Anhänger Wagners. Er polemisierte
über das „musikalisch Schöne“ mit dem Wiener Kritiker
und Ästhetiker Eduard Hanslick, versuchte jedoch,
zwischen diesen zwei Positionen eine „spezifisch tschechische“
(die für ihn das Werk des tschechischen Nationalkomponisten
Bedřich Smetanas darstellte) zu definieren. (Der
so genannte „Kampf um Smetana“ in der tschechischen
Musik war gewissermaßen ein Abbild des Kampfes zwischen
„Wagnerianen“ und „Brahmsianen“ in Wien). Die praktische
Begegnung mit dem Werk Bendas und die theoretischen
Betrachtungen Hostinskýs stellten für Fibich eine
künstlerische Aufforderung dar. Noch im Jahre 1875
schrieb er sein erstes Konzertmelodram, Der
heilige Abend, nach einer Ballade von Karel Jaromír
Erben für einen Sprecher und Klavier (später hat er
das Werk instrumentiert). Die Konzertmelodramen Fibichs,
vor allem die nach den beliebten Erben-Balladen geschriebenen,
sind rasch populär geworden. Man findet sie an den
Programmen verschiedener Vereine, wo sie von begeisterten
Dilettanten aufgeführt wurden. Bald erschien auch
ein erster Spezialist, der Schriftsteller, Journalist
und Schauspieler František
Sokol-Tůma (1855–1925), der
mit den Melodramen Fibichs eine Tournee in den Böhmischen
Ländern unternahm.
Im
Jahre 1885 veröffentlichte Hostinský in der Zeitschrift
Lumír einen Artikel Über das
Melodram, wo zum ersten Mal die theoretischen
Voraussetzungen dieser neuen (oder wiederbelebten)
Gattung formuliert waren. An einem „Melo-Drama“ (also
als einer abenfüllenden szenischen Form) hat Hostinský
jedoch gezweifelt.
Ein terminologisches Labyrinth
Den Begriff „Melodrama“ bzw. „Melodram“
ist nicht eindeutig zu erklären. Abgesehen davon,
daß im Italienischen das Wort „Melodramma“ noch bei
Giuseppe Verdi als Synonym für „Oper“ aufscheint,
hat es in der Geschichte des Theaters und des Filmes
unterschiedliche Bedeutungen.
Als „Melodrama“ bezeichnete man die französischen
Theaterstücke des 19. Jahrhunderts mit einer einfachen
Handlung, reicher Bühnenausstattung und dem Tanz.
Die Intrige verwendete die üblichen „Verkleidungs-„
und „Entführungstricks“, zum Schluß kam immer anstatt
des historischen deus
ex machina ein „unerwarteter“ Zufall. Nach England
exportiert, bedeutete das Wort „Melodrama“ dann ein
Schauspiel mit einem größeren Anteil an Bühnenmusik.
So wurden auch die beliebten „Gespenster“-Stücke benannt,
eine Theatervariation des „gotischen“ Romans, und
so kamen sie auch nach Amerika. Und eine Kuriosität:
heute findet man im Geburtsland Fibichs und Vrchlickýs
(seines Librettisten) das Wort
„Melodrama“ im Fernsehprogramm als Bezeichnung
für ein „Liebesdrama“.
Die Musikwissenschaft unterscheidet jedenfalls
zwischen Melodram – eine für die konzertante Aufführung bestimmte Gattung,
die Rezitation mit musikalischer Begleitung – und
dem Melodrama, ein vom Orchester begleitetes Schauspiel.
Zurück zu den Griechen
Otakar
Hostinský war auch einer der ersten Tschechen, die
sich für das griechische Drama interessiert haben.
Er publizierte Betrachtungen Über die Musik der alten Griechen (1880) und das erneuerte Interesse
an der Geschichte des Theaters (ein Bestandteil des
allgemeinen historischen Interesses der Romantik)
regte auch den Dichter, Übersetzer und Dramatiker
Jaroslav Vrchlický (1853–1912) an. Fibich hat bereits
Vrchlickýs Gedichte (Königin Emma, Hakon) bzw. Übersetzungen (Der
Blumen Rache von Ferdinand Freiligrath) zu seinen
Konzertmelodramen verwendet. In den Jahren 1889–91
entstand nun die dramatische Trilogie Vrchlickýs,
Hippodamia.
Zuerst schrieb Vrchlický den ersten und den dritten
Teil. Als jedoch Fibich den ersten Teil, Pelops Brautwerbung,
mit Musik unterlegt, fand auch der Dichter Interesse
an diesem Experiment und schrieb den mittleren Teil
direkt als ein Libretto zum Melodrama. Beide sahen
in ihrem gemeinsamen Werk eine Möglichkeit, ihre Vorstellungen
von der Verbindung zwischen
Wort und Musik aufgrund eines mythologischen
Stoffes zu verwirklichen. Im Unterschied zum Werk
von Benda, in dem die rezitierten Passagen mit den
musikalischen Zwischenspielen abwechseln, haben Fibich
und Vrchlický eine andere Art gewählt: die Musik untermalt
die Worte, sie akzentuiert deren Inhalt. Dabei hat
Fibich als assoziatives Mittel
auch die Wagnersche Leitmotivik verwendet.
Die
Uraufführung von Pelops
Brautwerbung fand am 21. Februar 1890 am Nationaltheater
Prag statt, ein Jahr später, am 2. Juni, wurde der
zweite Teil, Tantalos
Versöhnung, und am 8. November der dritte Teil,
Der Tod der Hippodamia, uraufgeführt. Der erste Teil – Pelops Brautwerbung – repräsentierte auch
die tschechische dramatische Kunst anläßlich der Internationalen
Ausstellung für Musik- und Theaterwesen im Jahre 1892
in Wien, als Bestandteil des Gastspiels des Prager
Nationaltheaters. Die Kritik schrieb:
„Es
ist die konsequente Ausgestaltung des Wagner´schen
Musikdramas, das keine natürlichere Entwickelung haben
konnte, als die zum Melodram. Der nächste Schritt
von der Recitation auf Noten war folgerichtig die
Recitation ohne Noten. Der Böhme Zdenko Fibich hat
ihn, entsprechend der vorgreifenden slavischen Natur,
früher gemacht, als er in Deutschland, das noch immer
tief im Autoritätsbanne Wagner´s steckt, erwartet
werden konnte.“
Dr. Josef Koenigstein, Illustrirtes
Wiener Extrablatt).
„Es
war ein wahrhaft erhebender Theaterabend, ein ungewöhnlicher
künstlerischer Genuss. Eine glückliche Fügung, welche
jederzeit, soll ein bedeutendes Kunstwerk erstehen,
harmonische Elemente zum ästhetischen Bunde einen
muss, hat einem hervorragenden Dichter, Jaroslav Vrchlický,
einen genialen Musiker, Zdenko Fibich, zugeführt.“
(Dr. Robert Hirschfeld, Die Presse).
„Es
ist keine neue Kunstgattung, die Fibich geschaffen;
schon Beethoven, vor allem aber Marschner und Schumann
haben sich wirkungsvoll auf melodramatischem Gebiete
bewegt. Doch ist Fibich der Erste, der dieses Princip
bis in seine äussersten Konsequenzen verfolgt hat,
und fasst diese Kunstform auf der Bühne Boden, worüber
heute noch gar nicht beurtheilt werden kann, so wird
man den Böhmen als Bahnbrecher gelten lassen müssen.“
(Albert Kauders, Wiener Allgemeine Zeitung).
„Getreu
dem Plane, die dramatische Literatur und Musik des
czechischen Volkes in ihren hervorragendsten Werken
den internationalen Wienern zu zeigen, brachte man
gestern ein Drama voll eigenartigen Reizes, in welchem
sich das gesprochene Wort mit den Tönen der Musik
zu voller poetischer Wirkung eint.“ (ohne Namens des
Verfassers, Fremdenblatt).
Als
Gesamtzyklus wurde die Trilogie im Rahmen der Feier
zum 40. Geburtstag des Dichters Vrchlický, vom 16.
bis 18. Februar 1893, am Nationaltheater gespielt.
Auch einige ausländische Bühnen haben sich für das
Werk eingesetzt. Pelops Brauwerbung wurde im Jahre 1893
vom Flämischen Nationaltheater in Antwerpen (auf Flämisch)
aufgeführt, am 9. April 1924 fand an der Wiener Volksoper
die erste deutschsprachige Aufführung statt.
Vrchlický und Fibich haben das Werk für die
Sprechschauspieler bestimmt, doch bereits in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte sich – mit der
Einführung der natürlichen Sprechweise und der Ablehnung
der pathetischen Deklamation, – daß die Schauspieler
mit der Interpretierung der Melodramen gewaltige Probleme
haben. So versuchten bereits im Jahre 1932 der Regisseur
Ferdinand Pujman und der Dirigent Otakar Ostrčil,
die melodramatische Trilogie Hippodamia
mit Opernsolisten zu besetzen. Die Inszenierung sollte
auch die Auffassung des Werkes als einer vor allem
musikalischen und erst in zweiter Linie dramatischen
Form beweisen. Die im Fibich-Jahr 2000 im Rahmen des
Festivals Prager Frühling stattgefundene konzertante
Aufführung zeigte aufs neue, wie wenig heute in der
schauspielerischen Ausbildung der Akzent auf eine
reine, deutliche Deklamation gelegt wird. Auch deswegen
hat die Fibich-Gesellschaft das Fibich-Festival und den Fibich-Wettbewerb
ins Leben gerufen.
Fibich
fand mehrere Nachfolger im Konzertmelodram: Josef
Bohuslav Foerster, Otakar Ostrčil, Ladislav Vycpálek,
Záboj Bláha-Mikeš, Pavel Bořkovec, František
Bartoš u.a. Doch im szenischen, abenfüllenden Melodrama
blieb er der Begründer und der einzige Meister.
© 2005 Vlasta Reittererová
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